Eine Kathedrale aus Wolle: Ein Kunstprojekt in der entweihten Kirche von Oosterend auf Texel
Während meines Urlaubs auf Texel führte mich eine Radtour in das kleine Dorf Oosterend. Ich stellte mein Rad an der Hauptkirche ab und schlenderte durch die verwinkelten, ruhigen Gassen. Vor der ehemaligen reformierten Kirche fielen mir die weit geöffneten Holztüren auf. Mitten im Eingang saßen eine Frau und ein Mann an ihren Spinnrädern und arbeiteten konzentriert. Die Szene wirkte wie ein lebendiges Bild. Neugierig trat ich hinzu und fragte, was hier entstehe. Die Antwort lautete: „Wir spinnen und stricken eine Kathedrale aus Wolle.“

Ein Kunstwerk aus Wolle – mit Bezug zur Insel
Die Frau am Spinnrad war die Künstlerin Ericka Voortman. Gemeinsam mit Bewohnerinnen und Bewohnern der Insel schafft sie in dieser entweihten Kirche ein außergewöhnliches Kunstwerk: eine Kathedrale aus Texelaner Wolle. Die Idee dahinter ist künstlerisch und zugleich zutiefst regional. Grundlage ist reine Wolle von Texelschafen, frisch geschoren und noch voller natürlicher Struktur.

Die Wollkathedrale soll später aus bis zu neun Meter langen, gestrickten Bahnen bestehen. Das Strickmuster ist bewusst schlicht gehalten: Es lässt das Licht weich hindurchscheinen und schafft eine ruhige Atmosphäre. Die Wände sollen wie textile Vorhänge hängen und einen Raum bilden, der gleichzeitig offen und geschützt wirkt.

Ein Blick in den Kirchenraum
In der Mitte des Kirchenschiffs standen die Arbeitsplätze: Stühle im Kreis, hin und wieder mit einem Spinnrad davor. Im Innenkreis lag ein großer Haufen frischer Rohwolle, cremefarben, leicht duftend nach Schaf. Darüber hingen bereits einige der langen Strickbahnen, sorgfältig drapiert – wie ein Dach mit Seitenwänden.

An einer der Kirchenwände hing, an einer langen Schnur aufgereiht, eine Reihe von Fotografien. Sie zeigten die Menschen aus Oosterend, die an diesem Projekt beteiligt waren: beim Sortieren der frisch geschorenen Wolle, beim Arbeiten an den Spinnrädern und beim Stricken der langen Bahnen, die später die Wände der Wollkathedrale bilden. Auch wenn an diesem Morgen nur Ericka und ein Helfer vor Ort waren, wurde deutlich, dass hier ein Gemeinschaftswerk wächst.

Hommage und Mahnung zugleich
Die Wollkathedrale erzählt eine Geschichte, die weit über Handarbeit hinausgeht. Die Texelaner Schafzucht hat eine lange Tradition, doch der wirtschaftliche Wert der Wolle ist stark gesunken. Oft lohnt sich die Weiterverarbeitung für die Bauern kaum. Wolle, früher unverzichtbar, wird heute teilweise entsorgt.
Erickas Projekt setzt ein Zeichen: Wolle ist ein Naturmaterial mit Geschichte, Charakter und Wert. In der Kunstinstallation wird sie sichtbar und würdig behandelt. Gleichzeitig lädt der fertige Raum dazu ein, zur Ruhe zu kommen und den Blick auf das Material neu zu entdecken.

Die Kathedrale aus Wolle – ein Ort, der verbindet
Die Wollkathedrale ist kein abgeschlossenes Kunstwerk. Sie wächst langsam, in gemeinsamer Arbeit, Faden für Faden. Die Kirche in Oosterend wird dabei zu einem Ort der Begegnung. Menschen treffen sich, tauschen Neuigkeiten, aber auch Erinnerungen an früher aus, spinnen, stricken, erzählen. Tradition wird weitergegeben, nicht als Pflicht, sondern aus Freude.
Wer Texel besucht, sollte sich Zeit für diesen besonderen Ort nehmen. Die offenen Kirchentüren laden ein, einzutreten und den Entstehungsprozess mitzuerleben. Bis Weihnachten soll die Wollkathedrale vollendet sein. Dann wird weiches Licht durch die gestrickten Wände fallen und den Raum in eine sanfte, warme Atmosphäre tauchen. Ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen und die stille Kraft von Material, Handwerk und Gemeinschaft spüren kann.
Nicht das erste Kunstprojekt von Ericka Voortman auf Texel
Es ist nicht das erste Kunstprojekt, das Ericka Voortman auf Texel geschaffen hat. So hat sie südlich von Den Hoorn in einem Schafstall das Projekt „Boetje von Klemat“ entwickelt. Hier richtet sie jedes Jahr monumentale Kunstinstallationen aus. Aktuell bilden sieben zerbrechliche, monumentale Wiegen aus Trockenblumen und Schafwolle die Kulisse für ein neues Märchen, das von einer wunderschönen Geschichte begleitet wird, reich illustriert mit zarten Zeichnungen. Dafür hat sie den Culturpreis Texel 2024 erhalten.
Sie können diese erfolgreiche Ausstellung noch bis Ende August 2026 besuchen. Täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geöffnet.
Wenn du tiefer in die Geschichte des Texelschafs und seiner Wolle eintauchen möchtest, lohnt sich ein Blick in mein Gespräch mit Frank Gorter, einem texelaner Tierarzt und Bauern, der spannende Einblicke und viel Hintergrundwissen mit mir geteilt hat.



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